Monatsspruch Januar

Du bist ein Gott, der mich sieht

Liebe Gemeinde, 
„Du hast gar nicht richtig hingeguckt!“ So beklagte sich meine Tochter neulich erbost. Ich hatte einen für ihren Geschmack allzu beiläufigen Blick auf ein beschädigtes Spielzeug geworfen. Und sie fand sich und das Problem nicht ausreichend wahrgenommen.

Richtig angeschaut werden. Gesehen werden. Das ist ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen. Und das Gefühl, dass keiner mich wahrnimmt – darin, wie ich bin, was ich tue, was ich brauche – ist die Quelle von viel Schmerz und Streit. In der Familie, bei der Arbeit, und auch in der Gesellschaft. 

So ist es auch in der Geschichte, aus der die Jahreslosung für das Jahr 2023 stammt – das Bibelwort, das Menschen aus verschiedenen Kirchen für dieses Jahr ausgewählt haben. „Du bist ein Gott, der mich sieht“ lautet es, und stammt aus einer Erzählung ziemlich vom Anfang der Bibel. Die Frau, die diesen Satz sagt, ist Hagar. Eine, die sonst nicht gesehen wird. Eine Sklavin, eine Nebenfrau in den Geschichten um Abraham und Sarah, die sich dabei nicht mit Ruhm bekleckern.

Unglück, Stolz und Eifersucht führen zu einer Konstellation, die Hagar verzweifelt in die Wüste treibt. Obwohl das lebensgefährlich ist, obwohl sie nicht weiß, wohin. Aber dort begegnet ihr  an einer Quelle ein Engel – der allererste übrigens, der in der Bibel auftritt. Und Hagar, die sonst Mißachtete und auf ihre Funktion reduzierte, die gewissermaßen zur Minna gemachte, wird angeschaut. Angesprochen. Sie findet für sich – und ihr ungeborenes Kind -  eine Zukunftsperspektive. Und Hagar, die bisher Ungehörte, Unerhörte, gibt Gott einen neuen Namen: Du bist ein Gott, der mich sieht.

Gesehen werden. Nicht misstrauisch, nicht überwacht, wie man es eventuell auch mit dem alles sehenden Gott verbinden könnte. Sondern angesehen mit einem freundlichen Blick, der groß genug ist, dass er mich ganz ins Auge fassen kann. Mit dem, was offensichtlich ist und mit dem was darunter liegt, mit allem, was in mir ist an Motiven, Fähigkeiten und Bedürfnissen.

Die Vorstellung, dass Gott uns alle und jeweils einzeln mit einem Lächeln anschaut, ist nicht nur tröstlich, wenn ich das Gefühl habe, nicht richtig gesehen zu werden - oder merke, dass ich andere nicht so aufmerksam wahrnehmen konnte, wie sie es brauchen. Sie hilft mir auch, mich selber freundlich zu betrachten: Und dem entgegenzuwachsen, was er in mir noch sieht.

In diesem Sinne: Ein Jahr mit vielen lichten Blicken und Entdeckungen bei sich und anderen wünsche ich Ihnen!

Herzlich

Ihre Pfn. Thora Weintz