Monatsspruch Oktober

HERR, all mein Sehnen liegt offen vor dir, mein Seufzen war dir nicht verborgen.

Liebe Gemeinde,
ein Mensch im Gebet, einer, der weiß: Dir, Gott, kann ich alles sagen, mein Schönes und mein Schweres, was ich zu tragen habe und auch das, was ich nicht ertragen kann. Du kennst mich, wie niemand sonst mich kennt. Du bist ganz Ohr für mein Schreien in Freude und Schmerz. Eine, die sich birgt in dem unglaublichen Privileg, zu Gott DU zu sagen, dem Schöpfer, dem Erlöser, der Trösterin selber in allen Lebenslagen und Weltlagen in den Ohren zu liegen und nicht locker zu lassen, nicht nur mit braven Worten – wie die Witwe im Lukasevangelium, die jeden Tag bei dem Richter auf der Matte steht und ihn nötigt, ihr zu helfen, „sonst kommt sie am Ende noch“, denkt der Herr, „und schlägt mich ins Gesicht“ (Lukas 18, 1-8).

Seit Jahrtausenden also die Psalmen als Anleitung zum Beterin Sein, als Sprachübung ZU Gott zu reden anstatt ÜBER Gott zu sinnieren. Auf die berühmte, distanziert-skeptische Frage „Wie kann Gott das zulassen?“ wird kein Mensch jemals eine Antwort bekommen, fürchte ich. Mit den Psalmen und allen Betenden vor mir in Gottes Ohr zu schreien und zu seufzen: „Gott, wie kannst DU das zulassen? Wo bist du? Wo sind deine Verheißungen?“, dieser Sprechakt katapultiert? rettet? versetzt? in eine andere Dimension.

In der Bilanz des Reformationsjubiläums wurde die EKBO vom Hauptstadtjournalismus vornehmlich als eine Kirche wahrgenommen, die mehr auf „aufdringliches Marketing“, „große Zahlen“ und „Eventkultur“ setze, als den Menschen in der Hauptstadt die Frage zu beantworten, was „Gebet, Gottesdienst, Glaube im 21. Jahrhundert“ bedeute.

Diese Außenwahrnehmung hat mich auf meiner Wanderschaft durch die Berliner Kirchengemeinden hellhörig gemacht. Schwindet womöglich an der Basis der Mut, zwischen den vielen Konkurrenzen der Lebensdeutungs- und Eventagenturen selbstbewusst einladend Evangelische Kirche zu sein, Leute, die die Bibel für ein lebenswichtiges Buch halten, absichtslos und zweckfrei zum Beten und Gottesdienst-Feiern einladen, einfach, weil „Gott loben unser Amt“ ist? Und zwar ohne immerzu auf die sog. „Kundenbedürfnisse“ zu schielen, in hektischer Betriebsamkeit eine Perspektive von Angebot und Nachfrage einzunehmen, von Erfolg, von Effektivität und Marktförmigkeit?

Zu Gott beten ist nicht effektiv, nicht marktförmig, erst recht nicht „innovativ“ und steigert wahrscheinlich auch keinen Profit. Und ist doch existentieller Ur-Ausdruck menschlichen Lebens, gelingenden Lebens. Zu Gott beten, den Glauben feiern, Raum freihalten und vorhalten für die andere Dimension, für „mein Begehren“ und „mein Seufzen“, und in Gottes Namen „ganz Ohr sein“ für das Begehren und das Seufzen unserer Zeitgenossen, damit, glaube ich, müssen die Berliner Kirchengemeinden nicht hinter dem Berg halten. Ich freue mich auf die Begegnungen mit Ihnen, liebe Betende, liebe Suchende, liebe Feiernde in Lichtenrade!

Caterina Freudenberg
Pfarrerin im Sprengel Berlin